Sichelschmiede

Werkstatt für Friedensarbeit in der Kyritz-Ruppiner Heide



Pressespiegel

Artikel in anarchisme et nonviolence, 11. Oktober 2007

Global denken, lokal handeln

(Übersetzung ins Deutsche durch den Autor, französisches Original hier)

Für die Dynamik politischer Bewegungen und insbesondere für den Erfolg gewaltfreien Widerstands ist es entscheidend, wie sich unterschiedliche Strömungen zueinander verhalten. Gelingt es z. B. in der Zusammenarbeit die Bodenständigkeit der unmittelbar betroffenen "normalen Bevölkerung" mit dem Schwung jugendlicher Aktionsgruppen zu verbinden und ein gemeinsames Werte-Verständnis für aktiv gewaltfreies Verhalten zu entwickeln, ist viel gewonnen. Unterschiedlicher Herkünfte, Erfahrungen und inhaltliche Ansätze können Spannungen verursachen : z. B. Stadt - Land, alt - jung, konservativ - radikal, Ost-West, um nur einige Pole zu nennen. Oft entsteht soviel Reibung, dass nicht mehr genug Kraft für den gemeinsamen Kampf übrig bleibt. Oder umgekehrt viel inhaltliche Unklarheit aus dem Bemühen, diese Reibungen zu vermeiden. Die Beispiele im folgenden Text möchten zu mehr Selbst-Reflexion und Sensibilität gegenüber den "Anderen" im Widerstand anregen.

Bombodrom oder FREIe HEIDe - ein Brennpunkt der deutschen Friedensbewegung ?

Bei den Ostermärschen der Friedensbewegung hat die Demonstration in der Heide zwischen Wittstock und Neuruppin seit Jahren bundesweit die höchsten Teilnehmerzahlen. Die wirtschaftliche Zukunft der Anwohner hängt davon ab, ob der Region Ruhe und intakte Natur erhalten bleiben : Im Bereich Tourismus, Kliniken, Tagungshäuser und ökologische Landwirtschaft wurden in den letzten Jahren in dieser strukturschwachen Region mit hoher Arbeitslosigkeit die meisten Arbeitsplätze geschaffen. Die Abneigung vieler Betroffenen rührt primär aus solch existenziellen, weniger aus grundsätzlich antimilitaristischen Motiven. Viele erinnern sich an 40 Jahre Lärm und Erschütterung durch die Nutzung des Platzes durch die Rote Armee und genießen die Ruhe.

Die seit 1992 arbeitende Bürgerinitiative FREIE HEIDe stützt sich u. a. auf die protestantische Kirche, die zu DDR-Zeiten oppositionellen Kräften der Friedens-, Umwelt- und Freiheitsgruppen Artikulationsmöglichkeiten gegen die SED bot. SPD- Politiker wie der frühere Ministerpräsident Manfred Stolpe kamen aus der DDR-Kirchenführung. So liegt die Hoffnung vieler - Aktiver in der Region besonders auf den Führungspersönlichkeiten aus Kirche und Politik in den Neuen Bundesländern, die nicht durch illegale Aktionen oder Allianzen mit systemkritischen radikalen Gruppen verärgert werden sollen. Dieses Vertrauen wurde allerdings schon mehrfach durch Opportunismus von Politikern beschädigt, wenn z.B. SPD Kanzler-Kandidat Scharping seine Unterstützung für eine zivile Heide fallen ließ, sobald er Verteidigungsminister wurde.

Nach 15 Jahren Protest leidet der Verein Bürgerinitiative FREIe HEIDe unter Personalnot. Der derzeitige Sprecher ist Pastor, dessen Pfarrstelle wegen zurückgehender Kirchensteuereinnahmen eingespart wurde. Viele Bürger ermöglichen durch Spenden vorerst seine Weiterarbeit als Friedenspastor. Seit Jahren drängen gewaltfreie Antimilitaristen aus Berlin und junge Leute aus der Region die Bürgerinitiative, sich nicht auf die bewährten Formen bürgerlichen Protestes und gerichtlicher Schritte gegen die militärische Nutzung der Heidefläche als Bombenabwurfplatz zu beschränken, sondern sich auf Aktionen Zivilen Ungehorsams vorzubereiten. Die Gruppe Neuruppin-Berlin bemüht sich, das Thema Freie Heide zu einem Brennpunkt der gesamten Friedensbewegung zu machen. Dazu dienten die jährlich stattfindenden Antimilitaristischen Sommer - Aktionstage, die Konzertblockaden der Gruppe Lebenslaute oder die propagierte Kampagne "Bomben Nein- wir gehen rein !" : möglichst viele Menschen sollen sich bereit erklären, an Besetzungsaktionen teilzunehmen, falls die Armee das Gelände in Besitz nehmen sollte. Parallel dazu werden mindestens 200 Gruppen gesucht, die, sich abwechselnd, schon vorher das Sperrgebiet betreten sollen, um sich auf eine solche Aktion im Ernstfall vorzubereiten und dabei symbolisch Präsenz zu demonstrieren.

Selbst der Rechtsanwalt der Initiative erklärte mehrfach, dass der Weg über die Gerichte notwendig sei, aber nicht überschätzt werden dürfe. Die Entscheidung wird letztlich eine politische sein, daher müsse man möglichst starken außerparlamentarischen Druck erzeugen. Bisher ist die Bilanz juristischer Abwehr der Übernahme durch die Bundeswehr positiv, bereits 22 mal entschieden Gerichte in unteren Instanzen gegen die Bundeswehr, am 31. Juli 2007 erstmals in der Hauptsache. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die letztinstanzliche Entscheidung sich gegen die Bürger wenden wird - soll dann der Widerstand beendet werden ? Nicht zu übersehen ist die "Zurückhaltung" der Bürgerinitiative, wenn es um öffentliche demonstrative Überschreitung von Vorschriften geht. Die zahlreichen Wanderungen und Aktionen der Bürgerinitiative finden am Rande der 140 qkm großen Heidegebietes statt, das Betretungsverbot wurde überwiegend beachtet, auch weil auf Teilflächen Gefahr durch nicht explodierte Munition und Bomben besteht.

"Jedes Ziel ist ein Zuhause"

Inzwischen siedelte sich am Rande der Heide das Projekt "Sichelschmiede" an, das viel Erfahrung von gewaltfreien Blockaden und direkten Aktionen mitbringen. Dort entstand die Idee der rosa Pyramiden als Symbol der allgemeinen Betroffenheit durch die Kriegsmanöver für die Bereitschaft, auf das Gelände zu gehen, bzw. auch sonst an möglichst vielen Stellen auf die Gegnerschaft hinzuweisen.

Im Vorfeld des G8 Gipfels in Heiligendamm (ca. 100 km nördlich der FREIEn HEIDe) und der zu erwartenden vielfältigen Demonstrationen entstand die Idee, am 1. Juni 2007 vor der Auftaktdemonstration in Rostock einen antimilitaristischen Aktionstag zu organisieren. Zahlreiche Gruppen, Euro-Märsche oder Fahrrad-Demonstrationen würden zu einem Zwischenstopp in der Heide veranlasst werden können.

Doch an dieser Idee schieden sich bald die Geister : während die einen eine Chance darin sahen, Aktive aus anderen Regionen und politischen Aktionsfeldern für das Thema FREIe HEIDe zu interessieren und die Allianz für zukünftige Aktionen zu verbreitern, hatten Verantwortliche der Bürgerinitiative die Befürchtungen, unkontrollierte Kräfte von außerhalb könnten den bislang guten Ruf der FREIEn HEIDE in der Bevölkerung ernsthaft gefährden. In einem Offenen Brief wandte sich ein namhafter Teil der BI an die Organisatoren der symbolischen Besetzungsaktion und forderten, wegen ihrer schwerwiegenden Bedenken auf die Durchführung dieser Pläne zu verzichten. Statt einer Einigung kam es faktisch zum Abbruch der Beziehungen, während die BI die "rosa Pyramiden" - Aktionen mit öffentlichem Schweigen belegte, setzten die Aktivisten ihre Vorbereitungen fort. Kampagnen wie "x-tausend mal quer", "Gewaltfrei Atomwaffen abschaffen" und andere Gruppen aus dem gewaltfreien und antimilitaristischen Spektrum beteiligten sich, aber auch die regionale Evangelische Jugend und einige Jung-Unternehmer der Initiative "Pro HEIDE".

Die Vorbereitung der Aktion waren ausgezeichnet, die anreisenden Gruppen, darunter die "Clowns-Armee" fanden u. a. Zeltplätze und Trainings in gewaltfreier Aktion vor. Sorgfältig gepflegte Kontakte zu den Medien, aber auch Informationsgespräche mit Polizei und Bundeswehr reduzierten unnötige Fantasien, die zu negativen Reaktionen führen könnten : Die Öffentlichkeit sollte im Vorweg wissen, in welchem Geist die Veranstalter die Aktion durchführen wollten. Das Bild an den beiden Versammlungsorten am Rande der Heide war vor allem von der Farbe rosa bestimmt : rosa Luftballons und pyramidenförmige rosa Papierhüte schmückten hunderte Aktive diverser Basisgruppen und Friedeninitiativen, nicht wenige auch aus dem Ausland.

Mehrere Hundertschaften Polizei warteten am Ort der offiziell geplanten Abschluss-Kundgebung, wo die zwei Marschsäulen zusammenkommen sollten. Auf halber Strecke verließen die Demonstranten die genehmigte Route, und bogen, einen Schlagbaum überwindend, auf den Schießplatz ein. Nach gut 100 Metern auf einer betonierten Straße war ein Beobachtungsturm erreicht, der in kürzester Zeit besetzt und mit rosa Farbe aus seiner grauen Existenz befreit wurde. Rund herum wuchs ein Zeltdorf, wurde die mobile Küche eines Kollektivs aus Belgien installiert, Lautsprecheranlagen aufgebaut usw.. Bald startete die Gruppe "Lebenslaute" ihr Konzert mit Stücken von Haydn bis Weill.

Andere Musikanten spielten zum Tanz auf, insgesamt hatten 700 Menschen demonstrativ das Betretungsverbot des ausgeschilderten "militärischen Sperrgebiets" übertreten. Anfangs beobachteten Feldjäger das lebendige Treiben aus der Distanz, bald waren aber auch sie von Clowns umringt, bis sie sich endgültig zurückzogen. Pragmatische Zurückhaltung war für Polizei und Militär sicher das vernünftigste Verhalten. Da davon auszugehen war, dass die Aktion am nächsten Morgen beendet würde, wäre jedes aggressive Vorgehen gegen die bunte Protestschar unnötige Kraftvergeudung gewesen. Die ausführlichen Berichte in den Zeitungen gaben den bunten und fröhlichen Geist der Aktion gut wieder, vieles davon war den Brandenburgern sicher fremd und ungewohnt, z.B. das Treiben der vielen Clowns, aber nichts davon bestätigte die vorausgegangenen Befürchtungen.

Bedauerlich war, wie wenige Mitglieder der regionalen BI sich ihr eigenes Bild machte. Sie verzichteten damit auf die Möglichkeit, aus eigener Anschauung das Geschehen mit ihren Befürchtungen, Vorurteilen oder Alternativvorstellungen von einer Besetzungsaktion vergleichen zu können. Bleibt zu wünschen, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln der FREIen HEIDe bald von Aufeinanderzuhören und gegenseitigem voneinander Lernen abgelöst werden.

Larzac ist überall ! Wyhl ist überall ! Gorleben ist überall ! Die FREIe HEIDe …?

Eines vielleicht nicht fernen Tages wird es entscheidend sein, ob die lokale Bevölkerung fähig und bereit ist, selbst Aktionen Zivilen Ungehorsams durchzuführen. Sonst ist das endgültige Scheitern vorgezeichnet, falls sich die Interessen der Armee vor den Gerichten endgültig durchsetzen.

Weder die zu vorsichtige Initiative von Bürgern aus der Region, noch die radikaleren Gruppen aus den Städten allein wären in der Lage, den Machtapparat zu stoppen. Wenn überhaupt, dann gelänge dies nur durch eine bewusste und gewollte Zusammenarbeit dieser Bewegungsteile - wie Beispiele zeigen, wo die Pläne von Staat und Militär bzw. Industrie durch populären Widerstand erfolgreich verhindert werden konnten und Polizei bzw. Armee sich buchstäblich zurückzogen, obwohl sie militärisch gesehen zweifellos stärker waren, siehe die Widerstandsbeispiele Larzac (1) oder Wyhl :

In den beiden ländlichen Regionen waren die konservativen Bewohner von Großprojekten aufgeschreckt, die ihre Existenz bedrohten. Ihre traditionellen Politikvertreter vertraten offensichtlich nicht ausreichend ihre Interessen. Die einzige Chance war, sich selbst zu organisieren und Bündnispartner zu suchen. Das Zusammenfinden zu einer Gemeinschaft und deren Einigung auf gewaltfreien Widerstand wurden zum Fundament der Selbstbehauptung. Von dort aus galt es, das Verständnis und die Sympathie der Öffentlichkeit zu erringen, auch gegen Medien in den Händen ihrer Gegner. Überparteilichkeit oder außerparlamentarischer Widerstand bedeutete, die Herzen der Mehrheit der Bevölkerung (oder zumindest eines relevanten Teiles der öffentlichen Meinung) zu gewinnen. Das verlangte, stets die Legitimität des Widerstandes aufzuzeigen und seine friedliche und konstruktive Seite deutlich zu machen.

Zuerst hatten sie ihre eigene Angst vor dem öffentlichen Überschreiten von Gesetzen zu überwinden, dabei half ihnen, dass sie sich den Erfahrungen gewaltfreier Gruppen öffneten. So lernten sie, offensiv zu handeln und ihr Anliegen, wenn nötig vor Gericht, öffentlich darzustellen. Der Vergleich mit anders gelagerten Fällen derselben Epoche, z.B. Malville oder Brokdorf, zeigt, dass dort wo die Einheit vor Ort und der Entschluss zu gewaltfreiem Widerstand fehlte oder nur schwach ausgeprägt war, auswärtige Gruppen ( Polizei und "autonome" bzw. maoistische Gruppen) sich über ihre Köpfe hinweg gewaltsam auseinandersetzten und damit das Wachsen des einheimischen Widerstands noch mehr erschwerten. Dieses gewaltsame Kräftemessen lenkte von den eigentlichen Anlässen ab und erleichterte es, dass der Bevölkerung Generationen bedrohende Anlagen aufgezwungen wurden. Statt einer politischen Emanzipation breitete sich bei den am unmittelbarsten Betroffenen das Gefühl von Ohnmacht aus.

Die Ungeduld der von außerhalb kommenden politischen Gruppen ist verständlich, weil derartige industrielle oder militärische Anlagen im Ernstfall weit mehr Menschen bedrohen als "nur" die unmittelbaren Anwohner. Dennoch ist es politisch unersetzbar wichtig, dass die Bevölkerung vor Ort aufwacht und sich ausgehend von ihrem Alltagsrahmen radikaleren Aktionsformen zuwendet. Im Laufe der Jahre wurde in der FREIen HEIDe in mehreren Veranstaltungen die Stärke des erfolgreichen Larzac-Widerstandes dargestellt. Die Reaktion war oft : "Toll, was da in Frankreich geschah, aber bei uns ist so etwas nicht vorstellbar"…. Es ist klar, dass die konkreten Verhältnisse in jedem einzelnen Fall verschieden sind, es also nicht um reine Nachahmung geht. Dennoch kann ein erfolgreiches Beispiel dazu anregen, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten für kreativen Widerstand die jeweilige Situation bieten könnte. Auf dem Larzac war die Frage der mobil gewordenen Landbevölkerung "Wie weit müssen wir noch gehen ?" , in der FREIen HEIDe stellt sich für gewaltfreie Aktionsgruppen, die mit der Bürgerinitiative am gemeinsamen Anliegen arbeiten wollen, die Frage " Wie lang müssen oder können wir noch warten ?"

Entscheidend für den Erfolg auf dem Larzac war u.a. die Einsicht, dass die umstrittene Fläche zu groß ist, um vollständig und ganzjährig besetzt werden zu können, auch nicht von Einheimischen und anreisenden Sympathisanten zusammen. Selbst Demonstrationen mit über 100 000 Beteiligten dauerten nicht länger als maximal drei Tage in der Ferienzeit. Aber es wurden im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn kontinuierlich Grenzen überschritten. Systematisch und kontinuierlich wurden Höfe besetzt und Land unter den Pflug genommen, das bereits von der Armee aufgekauft worden war, wurden gegen Verbote Häuser und Wasserleitungen gebaut usw. Dies waren gleichzeitig Aktionen des Widerstands und der konstruktiven Alternativen.. Vermittelt durch vielfältige Aktionen errang die Botschaft "Landwirtschaft fördert Leben. Armee bringt den Tod" die Sympathie in der landesweitem Bevölkerung. Das konnte nur gelingen, weil die ursprünglich konservative Landbevölkerung vor Ort und politisch engagierte Gruppen überall im Land aufeinander zugegangen waren. Schließlich traute sich die Armee nicht einmal, einen illegal neu gebauten Schafstall abzureißen, der den geplanten Schießübungen direkt im Wege stand.

Die Aktionen zum G8 Gipfel

Im Vorfeld war ich den geplanten Blockaden um Heiligendamm gegenüber sehr skeptisch. Was bewirkt eine Blockade, die den Zugang zum Tagungsort zwar erschwert, der Protest von den Regierenden aber höchstens aus dem Hubschrauber wahrgenommen würde ? Anders als z.B. bei Atommülltransporten war das zu Blockierende m. E. zu abstrakt und zu weit weg. Aus früheren negativen Erfahrungen hatte ich Zweifel, ob das ungewohnt breite Bündnis von Protestgruppen aus der Sicht gewaltfreier Aktionsgruppen funktionieren könne. Wie kann man sich auf eine prinzipiell gewaltfreien Haltung einige, wenn dafür das Wort gewaltfrei vermeiden musste, weil dies für manche Gruppen ein Reizwort darstellte ? Doch offenbar war die Praxis überzeugender als Worte, die verschieden interpretiert werden können. Im Nachhinein erwies sich, dass viel mehr wirklich wurde als es noch in den Vorbereitungsphase ausgesehen hatte.

Das Klima bei der Auftaktdemonstration am 2. Juni in Rostock war wesentlich rauer als das des Vortags in der Heide, nicht nur wegen des unfreundlicheren Wetters. Die Massen der Demonstranten mussten auf dem Versammlungsplatz lange auf den Demonstrationsbeginn warten und dabei eine Durcheinander von zahlreichen gleichzeitig in voller Stärke aufgedrehten Lautsprechern ertragen. Es war zum Teil eine aggressive wenig Gemeinschaft ausdrückende. Stimmung. Ein schwarz Vermummter riss wortlos einem anderen Demonstranten die Fahne weg und hätte beinah unter den Demonstranten eine Schlägerei ausgelöst, wenn er nicht von anderen schwarz Gekleideten weggedrängt worden wäre.

Die Demonstration durch Rostock zeigte witzige und phantasievolle Transparente und andere originelle Formen, Protest auszudrücken, vieles war beeindruckend und lebensbejahend. Solange, bis sich ein schwarzer Block formierte und am Rande der Abschlusskundgebung am Rostocker Stadthafen heftige Auseinandersetzungen zwischen schwarz und grün gekleideten Trupps begannen, mit der Folge, der gesamten Demonstration in den Augen der Öffentlichkeit einen gewaltsam-destruktiven Stempel aufzudrücken. Ich erlaube mir kein Urteil, wer genau wie angefangen hat, sicher ist dass die übergroße Mehrheit der Anwesenden dieses machohafte Kräftemessen nicht wollten. Das Geschehen war aber bestimmt kein Zufall sondern gewollt, von wem und warum auch immer. Zu sah danach aus, dass diese Szenen geplant waren. Dem Zweiten Deutschen Fernsehen diente ein großes Schiff als Sendezentrale für die Reportage über die Demo und genau ,als dort der Polizeipräsident im Interview von der friedlichen Linie seines Einsatzkonzeptes sprach, ging auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes optisch günstig auf der ansteigenden Strasse der Kampf los. Eine bessere Perspektive hätten sich die Kameraleute vorher nicht aussuchen können.

Das erste Resümee der 30 Demonstrationsbeobachter vom Komitee für Grundrechte und Demokratie sagt deutlich: "Die Polizei ist dem Protest von Beginn aller Planungen an eskalierend und kriminalisierend begegnet." Die Proteste gegen die vielfältigen Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit wie der 12 km lange Zaun um Heiligendamm und das noch weiterreichende Demonstrationsverbot wurden von weiten Teilen der Öffentlichkeit getragen. Letzteres " wurde nur deshalb vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, weil es am…2.6.zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei und einem verschwindend kleinen Teil- an der Zahl der Demonstrierenden gemessenen- Personen kam, die diese Auseinandersetzungen mit der Polizei suchten. Sie agierten aus der Versammlung heraus, warfen Steine und Flaschen und gefährdeten damit die anderen Demonstrierenden- nicht nur durch ihre eigenen Würfe, sondern auch durch die darauf gerichteten Polizeiaktionen. Die Polizei trug mit ihrem Konzept den Konflikt ebenfalls mitten in die Versammlungen hinein." Polizeieinheiten "drangen immer wieder tief in die Versammlung ein, um einzelne Personen festzunehmen…Sie schlugen während dieses Vorgehens rücksichtslos um sich." Komitee Informationen 4/2007 Juli 2007. (2)

Provokation oder magnetisches Angezogensein von der Gegenseite, letztlich hat es die dieselbe fatale Wirkung auf die Öffentlichkeit, weil die Gewalt zum ausschließlichen Thema und damit das jeweilige ursächliche Anliegen verdeckt wird. Beide Kampfparteien sehen das Unrecht nur auf der Gegenseite und rechtfertigen damit ihre eigenen Handlungen. Damit ver- oder behindern beide Seiten den Bewusstseinsprozess der Mehrheit der Betroffenen, deren Lernprozess, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Gegenseitig wird der Vorwand geliefert, sich auf noch mehr Gewalt Anwendung vorzubereiten. Gewalt macht blind, ihr autoritärer Charakter steht in totalem Gegensatz zum demokratisch-gewaltfreien Ziel der Selbstbestimmung. Eine Larzac- Bäuerin beschrieb ihre eigene Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den "Ordnungshütern" : Wir mussten zuerst den "flic" (Polizist) in uns selbst überwinden, bevor wir stark und unabhängig werden konnten". Während der Blockaden versuchten schwarz vermummte Zivilbeamte der Polizei Demonstranten zu Angriffen auf die Uniformierten zu bewegen. Sie fielen durch ihr Verhalten und ihre Wortwahl schnell auf, in einzelnen Fällen wurden sie von früheren Einsätzen z.B. in Bremen wieder erkannt. Empört schoben Demonstranten diese Provokateure in Richtung deren Kollegen und die Polizeiketten schlossen sich wieder hinter diesen Falschspielern. Die Staatsanwaltschaft Rostock entschied, nicht gegen den Zivilpolizisten zu ermitteln, der zum Steineerfen gegen seine Kollegen aufgerufen hatte. Die bemerkenswerte Begründung: weil aus den Reihen der Demonstranten tatsächlich keine Steine geworfen wurden ! (taz nord 30.11.07)

Die gewaltfreien Massenblockaden im Wendland wie in Heiligendamm konnten vor allem deshalb gelingen, weil die DemonstrantInnen nicht stur gegen die Polizeisperren anrannten, sondern flexibel und beharrlich dort durchströmten, wo sich Lücken in den Polizei-Ketten ergaben. Um ein Bild zu nehmen: Der Widerstand tut gut daran, im Weg liegende Steine wie Wasser zu umspülen, als zu versuchen, selbst so hart zu werden wie der Gegner.

Zwischen Legalismus und Gegengewalt

Seit fünfunddreißig Jahren gibt es die Zeitschrift "Graswurzelrevolution", gedacht zur Stärkung der Bewegung für direkte gewaltfreie Aktionen und Zivilen Ungehorsam - ein Anlass mehr darüber nachzudenken, wie sich die gewaltfreie Bewegung in Deutschland seither verändert hat.

Politiker und Medien verwenden seit Jahren das Wort gewaltfrei inflationär mit dem Ziel, die Deutungsmacht zu erringen, wonach "gewaltfrei" mit friedlich und gesetzestreu gleichgesetzt werden Der Staat soll nicht nur das Gewaltmonopol behalten, seine Politik wird immer öfter als "gewaltfrei" bezeichnet. Ziviler Ungehorsam soll kriminalisiert werden, um Menschen davon abzuhalten, ihn anzuwenden. Es erinnert an "1984" von George Orwell, wenn als jüngstes Beispiel Mecklenburg Vorpommern "Gewaltfreiheit" zum Staatsziel erklärt. Da wird verständlich, weshalb Kritiker der Gewalt beinhaltenden wie exportierenden Staatspolitik gegenüber diesem Begriff skeptisch sind. Das sprachlich begriffliche Problem besteht seit in den 1920er Jahren versucht wurde, die Philosophie und Praxis M. K. Gandhis in mitteleuropäische Sprachen zu übersetzen. Ob Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit, ob nonviolence oder non-violence- immer schwingt die Abwesenheit von etwas Starkem, also Schwäche mit (selbst wenn diese eine negative Konnotation hat), der Begriff drückt im Gegensatz zum indischen satyagraha nichts Positives und Kraftvolles aus, er transportiert nichts vom sozialen und revolutionären Anspruch. Die Kraft des gewaltfreien Widerstands kann in der Praxis weit überzeugender aufgezeigt werden als durch noch so viele Worte ohne Taten.

1972 konnte sich niemand so groß angelegte Aktionen wie Tage- und nächtelange Blockaden eines ganzen Gebietes durch bis zu 18 000 Menschen wie Anfang Juni 2007 bei Heiligendamm vorstellen. Die Praxis gewaltfreier Aktionsformen wie z.B. Sitzblockaden samt der Trainings und des Bezugsgruppen-Systems hat sich seit den Anfängen vor 25 Jahren gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen (3) verbreitet und wurde seit der ersten gewaltfreien Massenblockade des Castor-Transportes nach Gorleben 1997 endgültig zum Allgemeingut in der Friedens- und Ökologiebewegung. Jene Blockade von 9000 Menschen in Dannenberg entstand aufgrund schlechter Erfahrungen, in den Jahren zuvor gab es keine Kerngruppe, die sich offen für Aktionen Zivilen Ungehorsam ausgesprochen hätte, im Gegenteil, alle Aktionsformen sollte gleichberechtigt nebeneinander her laufen. Für Gruppen, die Gewalt gegenüber der Polizei planen oder zumindest nicht ausschließen ist es von Vorteil, wenn sich viele Menschen ums sie herum aufhalten. Gewaltfreie Aktionen jedoch sind unmöglich, wenn in unmittelbarer Nähe Menschen zum Beispiel Steine werfen. Im ersten Fall wird bewusst damit gerechnet oder zumindest in Kauf genommen, dass die Repression auf alle Anwesenden zurückfällt und bisher noch Zögernde radikalisiert, dagegen nehmen gewaltfreie Akteure das Risiko der Repression bewusst auf sich und laden es nicht auf Andere. Daher war die Konsequenz gewaltfreier Gruppen nach dem Chaos der Aktionen 1995 und 1996 nicht, Gewalt anwendende Gruppen zu denunzieren, sondern sich im wörtlichen Sinn zu distanzieren, d.h. bewusst auf räumlichen Abstand zu gehen.

Der Erfolg der Kampagne X1000malquer im März 1997, auch gemessen an Teilnehmerzahlen und der Dauer der Blockade drückte sich auch in der freundlichen Aufnahme durch die regionale Öffentlichkeit aus. Er ließ sich aber in diesem Maße später nicht wiederholen oder steigern - bis zu den Blockaden in Heiligendamm, zu denen die Kampagne X1000malquer wesentlich beitrug, obwohl ihr eigener Kern stark geschrumpft war.

Dieser Erfolg führte aber auch zu Jahre langen erbitterten Spannungen mit anderen Kräften im Castor-Widerstand, bis hin zur Unterstellung, die gewaltfreie Haltung mache es der Polizei leicht, zwischen "guten" und "bösen" Demonstranten zu unterscheiden, die einen mit Samthandschuhen anzufassen und die anderen umso härterer Repression auszusetzen. Schon von daher ist das Ergebnis der ca. 18 Monate dauernden Blockade-Vorbereitungen und die offenbar wirksame Einigung auf Verhaltensregeln zwischen Gewaltfreien und diesem Konzept skeptisch gegenüberstehenden Gruppen erstaunlich und ermutigend.

Was bedeutet das alles für die nächsten Aktionen?

Besonders wichtig finde ich, die gewaltfreie Position klar und unmissverständlich darstellen - ohne verurteilenden Dogmatismus. Eine kontinuierliche Bemühung, diese Haltung über die eigenen Kreise hinaus zu verbreiten und sie gleichzeitig immer wieder zu vertiefen.

Offenes Visier: Wir haben nichts zu verbergen, wollen bewusst weder Konspiration noch Vermummung. Wir stehen zu unseren Aktionen, wir wollen überzeugen und uns notfalls mit unserer ganzen Person gegen die organisierte Gewalt stellen

Ohne Illusion: Die Staatsmacht ist vom Gewaltpotential aus betrachtet eindeutig stärker als wir, Unser Interesse kann nur sein, die Gegenseite zu "entwaffnen". Regierungen haben immer die Tendenz, Infragestellungen ihrer Machtverhältnisse in dem Masse zu unterbinden, als diese von der Kritik bedroht werden. Ziviler Ungehorsam ist im Prinzip herausfordernd, provoziert und dramatisiert latente Konflikte, stellt wichtige Teile des herrschenden und von der Legalität meist gedeckten Gefüges als gewaltförmig in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Es dauert oft länger und kostet große Opfer der Betroffenen, bis legitime Anliegen wie Streikrecht oder Kriegsdienstverweigerung anerkannt und mit legalisiert werden. Je mehr Elemente des Gesellschaftssystems infrage gestellt werden, umso differenzierter muss auch unser Bemühen werden, in jedem einzelnen Bereich das Unrecht aufzeigen und alternative Regeln des Zusammenlebens zu finden - auf dem Weg zu einer immer gewaltärmeren (Welt-) Gesellschaft.

Die gewaltfreie Gesellschaftsveränderung, für die wir eintreten, begreift die vielfältigen, Gewalt mit sich bringenden, Probleme der Gesellschaft als komplex zusammenhängende Teile eines Gesamtsystems und nicht als zufällige Schönheitsfehler. Kriegsgefahr ist z. B. nicht allein durch Anerkennung der KDV oder durch Abschaffung der Wehrpflicht zu bannen usw. Es ist wichtig, punktgenaue Kampagnen zu organisieren, aber gleichzeitig die Zusammenhänge mit anderen Konflikten zu sehen und die gegenseitige Unterstützung der Kampagnen und Bewegungen zu fördern.

Es wird keine gewaltfreien Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Basisdemokratie geben, das heißt : Gewaltfreiheit als Ziel verlangt Abbau aller gewaltförmigen Herrschaftsmittel und Strukturen. Sie richtet sich zwangsläufig gegen wesentliche Elemente des Staates wie Militär, Rüstungsproduktion, Polizei als Schutz der Privilegien Weniger. Es kann nicht unser Interesse sein, dem Staat den Vorwand liefern, sich noch mehr hochzurüsten, , weil er stets vom Schlimmsten ausgehen "muss", um sich dagegen zu schützen. Wenn klar ist, dass wir uns gegen massive gesellschaftliche oder industrielle Gewalt wenden und dabei bewusst keine Gegengewalt ausüben, haben wir die besseren Chancen zu überzeugen und viele Menschen zu Widerstand (oder zum Verständnis und zur Sympathie für den Widerstand Anderer) zu bewegen. Dann können Situationen herbei geführt werden, wo auch der stärkste Staat einsehen muss, dass sein Ziel politisch nicht durchsetzbar ist und verstärkte Repression sich gegen ihn selbst auswirkt. Unsere Aktionen und Kampagnen sollten stets auch Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein. Auch in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass die gewaltfreien Aktionsgruppen sich stets ernsthaft um Austausch und Gesprächskontakt mit den "Einheimischen" bemühen, auch wenn dies mühsamer ist, als im Kreis der Gleichgesinnten und Gleichaltrigen aus den vertrauten Milieus zu bleiben.

Wolfgang Hertle

(1) W. Hertle : "Larzac 1971-1981. Der gewaltfreie Widerstand gegen einen Truppenübungsplatz in Südfrankreich. Kassel. 1982 . ISBN 3-887 13-001-4 (2) Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel - Demonstrationsbeobachtungen vom 2.-8. Juni 2007 rund um Heiligendamm.
( 3 ) 25 Jahre : "Schwerter zu Pflugscharen" - Einwöchige Sitzblockade vor dem Atomwaffenlager Grossengstingen im Sommer 1982